... es ist fast dunkel. Die Heizung kommt nicht so richtig in Schwung. Nieselregen macht sich vor dem Fenster breit. Eve atmet seufzend aus und nimmt einen tiefen Schluck aus dem Rotweinglas. Ihr aufgewühlter Magen grummelt, der Blick wandert durchs festlich geschmückte Wohnzimmer. In weniger als einer Stunde werden hier die üblichen Verdächtigen sitzen. Die liebe Familie wird an Keksen knabbern („Wieso machst Du Dir immer so einen Stress und backst über zehn Sorten?!“), den Punsch auf dem Teppich verschütten („Einmal aufpassen, ein-mal!“) und sich lautstark die neusten Tücken des Alltags mitteilen („Jetzt brüll doch nicht so, wir sind nicht auf dem Sportplatz!“). Wackeliger Friede, ein Rest Freude, die Stimmung gereizt. „Kann das nicht mal so laufen wie in der Werbung? Harmonisch, Fest der Liebe, frohes Beschenken und so?“, fragt sie laut in die stillen 31 Quadratmeter.

 „Doch, das ginge schon“, antwortet eine tiefe, holzig-raue Stimme aus der Ecke. Der Weihnachtsbaum verschränkt zwei dicke Äste vor der Stammesbrust. Eve schaut stirnrunzelnd zunächst ihr Weinglas an, dann den Baum. „Und … warum kriegen wir das mit der Harmonie nicht hin?“, fragt sie vorsichtig. „Naja“, sagt der Baum, „ich glaube, das liegt daran, dass Menschen sich gegenseitig immer nur in ihren gewohnten Rollen wahrnehmen und keinen Blick dafür haben, was den anderen im Moment beschäftigt. Das bringt alle Jahre wieder dieselben Konflikte mit sich. Ihr seid eben nicht nur Weltmeister im Kartoffelsalatessen, sondern auch Weltmeister darin, olle Kamellen zu lutschen.“

Eve lehnt sich neugierig nach vorn: „Und wie schaffen wir es jetzt, nicht einfach dasselbe Theater mit denselben Rollen wie jedes Jahr aufzuführen?“ Der Weihnachtsbaum wiegt sich mit seinem Schmuck bedächtig hin und her. Dann antwortet er: „Draußen in der Natur, wo ich herkomme, machen wir das so: Wir geben jeder Begegnung die Chance, eine erste Begegnung zu sein. Schicken die Altlasten in die ewigen Jagdgründe des Waldes. Wir vergeben das, was uns in der Vergangenheit an der Rinde gekratzt und den Wipfel zum Schütteln gebracht hat. So können wir unser Gegenüber mit frischem Blick wahrnehmen.“ – „Das klingt wunderbar“, entgegnet Eve. „Aber wie mache ich das gleich hier mit meiner Familie?“

Der Baum breitet seine Äste weit aus. „Öffnet Eure Herzen. Stellt Euch neue Fragen. Gebt Euch die Chance, Euer Miteinander neu zu gestalten. Denn am Ende kommt es doch in Eurem Menschenleben immer auf die Beziehungen an, die Ihr führt.“ – „Hm“, nickt Eve. „Zwischenmenschlich an Weihnachten also mal richtig was wagen ... Klingt gar nicht so übel, Meister des Waldes. Versuchen können wir es ja. Danke!“ Der Baum brummelt ein „Gern, stets zu Diensten“ in seine Nadeln. Da läutet es an der Tür.

Eve steht auf und öffnet. Es ist, nach 364 Tagen und zwei kurzen Telefonaten, ihr Bruder, in angespannter Haltung und mit Schutzschild-Gesichtsausdruck. Sie hält kurz inne, konzentriert sich auf den Duft von frischem Tannengrün und lächelt ihn an. „Schön, dass Du da bist. Gut siehst Du aus. Komm rein und erzähl mir, wie Dein Jahr war.“ Der Weihnachtsbaum atmet zufrieden aus. Die Heizung holt tief Luft und füllt den Raum mit wohliger Wärme.

 

PSM&W erzählt die besten Geschichten. Nicht nur an Weihnachten.